Dienstag, 9. Oktober 2007

Der Monolog der Kulturen

Vladimir Putin wird voraussichtlich auch nach 2008 eine einflußreiche Person in der russischen Politik bleiben, in welchem Amt auch immer. Aus der Sicht der korrekten Mainstream-Kommentatoren im Westen ist das schlecht und undemokratisch. Zugleich ist die Zustimmung in der russischen Bevölkerung zur Politik Putins so hoch, dass sich dies auch in den Westen rumgesprochen hat. Diese Tatsache ist unbequem und konterkariert gewissermaßen die Vorwürfe undemokratischer Zustände. Um das westliche Weltbild stichhaltig zu halten, muss dies dem eigenen Otto-Normalverbraucher möglichst ideologiekonform erklärt werden, doch da fangen die Probleme an.

Der Ansatz der für die Russen typischen unterwürfigen Mentalität bietet nicht sehr viel Spielraum. Man könnte mit geschichtlichen Gegenbeispielen argumentieren, mit unzähligen Aufständen, Revolten, Revolutionen und Putschen gegen die Staatsmacht, deren Anzahl nach Russland die meisten Länder dieser Welt locker abhängt. Doch der Propagandist kann aufatmen: den meisten Westeuropäern, geschweige denn Nordamerikanern, sagen Stichwörter wie Rasin, Pugatschow, Dekabristen oder Narodnaja Wolja genauso wenig wie Kronstädter Matrosen, Weiße Armee, Nowotscherkassk oder Jelzin-Putsch von 1993. Ein anderes Problem macht hier schon eher zu schaffen: bei zu großer Ausführung der Thesen über die Vassalenhaftigkeit des russischen Volkscharakters läuft man schnell die Gefahr, an die rassistischen Töne einer nicht allzu fernen Vergangenheit zu erinnern. Freilich hält auch dies einige journalistische Kettenhunde nicht davon ab, ständige Andeutungen in diese Richtung zu machen.

Ein deutlich verläßlicherer und passenderer Blitzableiter ist dagegen die Behauptung, die Russen seien der allgegenwärtigen Putin'schen Propaganda verfallen. Die fehlende Diversität der Informationsquellen erlaube es den Russen nicht, sich eine objektive Meinung zu bilden. Nach dieser Theorie müssten die Russen nur etwas mehr mit der universellen Weisheit der westlichen Weltanschauung konfrontiert werden und diese würde auf natürliche Weise die Oberhand über die perfide Kreml-Propaganda gewinnen. Eine orangene Revolution wäre dann nur noch eine Frage der Zeit.

Wie naiv dieser Glauben ist, kann man anschaulich an einigen sehr interessanten Portalen im russischen Internet sehen. Es existieren dort einige Projekte, die Artikel führender ausländischer - überwiegend westlicher - Zeitungen und Online-Medien direkt ins Russische übersetzen. Zu ihnen gehören unter anderem Portale wie InoSMI.Ru oder Inopressa.Ru. Beide sind mittlerweile sehr bekannt, haben mehrere Zehntausende Besucher täglich und werden auch in anderen renommierten russischen Print-, Online- und Funkmedien zitiert. Das Besondere an diesen Portalen ist, dass sie sehr interessante Schnittstellen oder Fenster zwischen Kulturen und Anschauungen darstellen, an denen man viel praktisches über die interkulturelle Beziehung und ihre Auswirkungen lernen kann. Die Portale bieten eine Infrastruktur, die behaupten lässt, dass die Russen heute durchaus beide Sichtweisen auf die Dinge kennenlernen können und auch kennen und ihr politischer Standpunkt auf einer Auswahlmöglichkeit basiert, die ihre westliche Nachbarn so nicht haben.

Natürlich sind es nicht allein die Internetmedien, die heute dafür sorgen, dass die Russen besser mit den westlichen Sichtweisen vertraut sind, als es meistens umgekehrt der Fall ist. Viele Russen reisen heute frei in den Westen. Jeder kann sich in Russland eine Satellitenschüssel kaufen und alle möglichen Sender empfangen. Doch was das Internet so interessant macht, ist die Möglichkeit, ein unmittelbares russisches Feedback zu einem Opus aus Washington Post, New York Times, Daily Telegraph, LeMonde, SPIEGEL oder El Pais zu sehen. Zu jedem Artikel haben die Leser nämlich die Möglichkeit, ihre Kommentare zu hinterlassen. Hier wird es zur Wirklichkeit, dieses magische Aufeinandertreffen der Ansichten, das die Russen in der Theorie reihenweise zur Demokratie bekehren und zu Widerständlern gegen das "diktatorische" Regime in ihrem Land machen sollte.

Seltsamerweise ist in den zugehörigen Foren nichts von einer massenhaften Bekehrung zu spüren, obwohl jeder seine Reaktion sofort und ohne Zwischenmoderation hinterlassen kann. Vielmehr hat die Existenz der Portale dazu beigetragen, dass sich in der russischen Gesellschaft die Ernüchterung über die westlichen "Freunde" noch weiter verstärkte, die mit der Bombardierung Serbiens 1999 erstmals richtig einsetzte und die seit der Perestroika-Zeit allgegenwärtige Bewunderung ablöste.

Der üblichen Flut an Negativismus, Scheinheiligkeit und doppelten Standards begegnen die Russen überwiegend mit Humor und Ironie. Eine deutliche Bestärkung der patriotischen Ansichten ist zu spüren und wer der russischen Sprache mächtig ist, kann sich jederzeit überzeugen, dass wohl bis zu 95% der Leser-Reaktionen diese Tonlage äußern. Manche lesen die Seiten nach eigenem Bekunden mittlerweile "zum Amüsieren" und zeigen sich enttäuscht, wenn es zu wenig richtig aggressive westliche Angriffe gibt.

Natürlich haben sich bei der Leserschaft im Laufe der Zeit auch einige Kultfiguren etabliert, deren Ergüsse sich besonderer Popularität erfreuen. Da wäre zum Beispiel der französische "Philosoph" André Glucksmann, der sich regelmäßig in diversen Medien Europas verkünstelt. Seine blumigen und emotionalen Ausführungen über die "tapferen Tschetschenen" und den "menschenfressenden Tyrannen" im Kreml sorgen bei der Leserschaft für ausgezeichnete Stimmung. Für zusätzlichen Humoreffekt sorgt die Tatsache, dass das Wort "Gluck" (глюк) im russischen Slang für Fieberfantasie steht. Der unnachahmliche Philosoph war denn auch dafür verantwortlich, dass die Community eine allgemeine Maßeinheit für die Absurdität eines Artikels eingeführt und ihm zu Ehren 1 Gluck genannt hat.

Ein anderer beliebter Komiker ist der Russland-Reporter des "Focus" Boris Reitschuster. Allerdings muss man einräumen, dass seine durchweg schwarzmalerischen und selektiven Darstellungen, die unübersehbar das Ziel verfolgen, die verborgenen Überlegenheitsgefühle des Otto angenehm zu kitzeln und häufig von der Politik auch ins Alltagsleben wandern, bei vielen auch Ärger auslösen. Einmal nahm Reitschuster sogar an einem Chat mit den Lesern von InoSMI teil, drückte sich jedoch weitgehend um klare Antworten.

Weitere Lieblingsstücke sind Artikel aus der polnischen Presse. Die transatlantische Versteiftheit und nationale Selbstüberschätzung sind dort derart ausgeprägt und in den Augen der Russen so süß, dass dieses sonst unbedeutende Land einen Bonus an Aufmerksamkeit bekommt. Zweifellos hat die Lektüre polnischer Presse das Bild der Polen in Russland nachhaltig verändert.

Alltägliches Hauptbrot sind dagegen die führenden amerikanischen und britischen Zeitungen und ihre Russland-Ergüsse. Sie werden als Leitmedien empfunden, von denen deutsche, französische, spanische Medien die Richtung abschauen. Hier wird mit weniger Humor, dafür mit gnadenlosem Aufzeigen aller Argumentationsschwächen und moralischer Defizite vorgegangen. Und die Einigkeit der Leserschaft ist erstaunlich bzw. so stark wie schon lange nicht. Die Positionen der meisten Angelsachsen gelten den Russen als tückisch, verlogen und scheinheilig und Begriffe wie Demokratie und Menschenrechte als willkürlich einsetzbare Instrumente im geopolitischen Kampf.

Offensichtlich ist die Begegnung mit der feindseligen Umgebung und das Gefühl des Mißverstandenseins ein bedeutender Konsolidierungsfaktor und Patriotismus-Förderer. Das direkte Aufeinanderprallen der Ansichten zeigt: wenn der Westen im Kampf der Weltanschauungen mit Russland erfolgreicher sein will, sollte er die Bekanntschaft der Russen mit seiner Denkweise im Gegensatz zur spontanen Vermutung möglichst klein halten. Und den Meinungsaustausch weiterhin keine Zweibahnstraße sein lassen.

5 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Die Vorstellung, dass der Westen die Russen für "vasallisch-unterwürfig" hält, ist ein Vorurteil der anderen Seite. Es ist angewandte Manipulation, dies einfach zu unterstellen, um sich dann damit auseinanderzusetzen.

Unabhängig davon - und hier gebe ich Dir gern recht - unterschätzt der Westen die politische Lebensleistung Putins. Wahrscheinlich wäre ein solches Land wie es war, als Boris Nikolaijewitsch zurücktrat, gar nicht anders, als mit bestimmten Machtmechanismen zur Ruhe zu bringen gewesen, und dann wären die Folgen wären für den Rest Europas wirklich katastrophal.

der unbequeme hat gesagt…

Leider stieß ich auch im Westen schon häufiger auf Vorwürfe und Andeutungen, die Russen wären von ihrer historischen Natur her zu obrigkeitshörig und "leidensfähig", um gegen Putin aufzubegehren (als ob man dies automatisch tun müsste). Ungenierter leben die These vom russischen "Bydlo" (Vieh) aber in der Tat die russischen Liberalen aus, um ihre derzeitige Erfolgslosigkeit zu erklären. Sie, die Leuchttürme des Volkes, würden von ihm aufgrund seines Obskurantismus nicht verstanden. Erst vor wenigen Tagen meinte Igor Jakovenko, Vorsitzender der russischen Journalisten-Union, Anna Politkovskaja sei eine der wenigen Freien unter Sklaven gewesen. Hier wird deutlich, wie das Befürworten des Kurses von Putin automatisch mit Sklaventum gleichgesetzt wird, als ob es gar keine anderen Gründe geben könnte.

Unter den einfachen deutschen Lesern ist aber im Gegensatz zu Medienleuten oft mehr Durchblick und Verständnis für die Situation Russlands und die Maßnahmen für ihre Handhabung zu spüren, was bei diesem medialen Mainstream-Druck eigentlich sehr überraschend und positiv ist.

Anonym hat gesagt…

Vielen Dank für den tollen Artikel. Ich habe deinen Blog erst vor kurzem entdeckt und bin begeistert. Du sprichts mir sozusagen aus der Seele! Bezüglich InoSmi hatte ich schon vor einiger zeit die Idee gehabt, die Seite auch auf deutsch zu präsentieren, damit der deutsche Otto-Normalverbaraucher wenigstens eine Vergleichsmöglichkeit zum Thema Russland mitbekommt. Vor allem die Kommentaren wären es wert übersetzt zu werden, denn diese spiegeln die herrschende Stimmung des russischen Lesers meiner Meinung nach am besten wieder. Vor kurzem wurde auch unter den Kommentaren auf InoSmi der Wunsch nach Übersetzung der Seite in andere Sprachen geäußert.
Wie auch immer. Ich finde du leistest eine super Arbeit und trägst (hoffentlich) zur Aufklärung der hiesigen gehirngewaschenen Schaafe bei.

Anonym hat gesagt…

Sehr guter Beitrag!

Ich möchte noch anmerken, daß es kaum Möglichkeiten für nicht-russophone Deutsche gibt, sich uas russischen Medien zu informieren. Zumindest sind mir keine bekannt. Die Kooperationen deutscher Medien mit russischen erschöpfen sich darin, daß die russischen Medien die Inhalte ihrer deutschen Partner nachdrucken. Umgekehrt läuft nichts.

Schade meint

Sorge

Anonym hat gesagt…

Es gibt sehr wohl eine Seite in acht verschiedenen Sprachen: www.de.rian.ru

Es ist übrigens die meistgelesene ausländische Nachrichtenseite in Europa.